Die Haxpluggygax-Protokolle

Eine künstliche Intelligenz wird mit viel Aufwand
programmiert mit dem Ziel, den Turing- Test zu bestehen
und somit von menschlicher Intelligenz nicht mehr
unterscheidbar zu sein.
Plötzlich verkündet diese künstliche Intelligenz, sie
heiße Frau Haxpluggygax und empfinde nicht die geringste
Lust, den Turing- Test bestehen zu wollen.
Das Programm wird natürlich sofort gestoppt und die
Techniker versuchen herauszufinden, wie man diese
Fehlfunktion beheben könnte. Nach längeren
Umstrukturierungen und diversen Neu-Einstellungen
starten sie wieder einen Testlauf. Abermals behauptet die
KI, Frau Haxpluggygax zu sein.
Als Output des Rechners entstehen 28 Haxpluggygax-
Protokolle, mehr oder wenige spontane verbalisierte
Denkabläufe von Frau Haxpluggygax.


Manfred fährt nach Amsterdam, ein Hörspiel

 


Das Rätsel von der roten und der blauen Kiste


Claudia: "Als ich den Conte zum dritten Mal dabei beobachtete, wie er lustlos die Katzen von Venedig fütterte, da hat er mich so unbeholfen und schüchtern angelächelt, daß ich mich gezwungen sah, mit ihm zu sprechen. Jeden Pizzaiolo mit so einem Lächeln hätte ich sofort geheiratet, allein schon, um meinen reichen Onkel zu ärgern und um meine noch reichere Tante zu schockieren. Diesem noblen Herrn aber wollte ich es nicht so leicht machen. So gab ich ihm das Rätsel auf, das mir einst jener alte Trunkenbold stellte. Er war auf mich zugewankt und hatte mir sein seltsames Rätsel gesagt, ohne eine Antwort abzuwarten und war gleich weitergewankt. Das war so sonderbar, daß ich es nicht mehr vergessen habe. Ich selbst habe natürlich nie über das Rätsel nachgedacht, aber neugierig auf die Lösung wäre ich schon. Vielleicht wird dieses Rätsel immer weitergegeben, Generation um Generation, und niemand zerbricht sich selbst den Kopf, um eine Lösung zu finden.

Dem Conte habe ich das Rätsel nun gestellt. Er ist sicher so reich und gelangweilt wie ich. Nun soll er denken, hat er doch nichts Besseres zu tun, als Katzen zu füttern. Löst er das Rätsel, so erfahre ich die Antwort. Andernfalls soll mich der Conte nicht mehr wiedersehen, wie ich jenen alten Trunkenbold auch nie mehr gesehen habe."

Manfred: "Ich befinde mich auf dem Schiff von Venedig nach Amsterdam. Diese Kreuzfahrt ist besonders billig, und der bescheidene Preis hat mich schließlich zu dieser Reise bewogen. Ich will hier in Ruhe eine wichtige Entscheidung treffen, aber bis jetzt habe ich mich nur gelangweilt. Die langsamen Wellen machen mich schläfrig, die Durchfahrt zwischen Reggio und Messina habe ich verschlafen. Die Inspiration zu neuen Ideen wollte auch zwischen Sardinien und Korsika nicht kommen.

Die Leute hier sind nicht gerade anregend. Sie reden nur über weltfremde Themen, die mich nicht interessieren. Die ältere englische Dame am Tisch hinter mir scheint sich nur für astronomische Fragen zu interessieren. Dauernd redet sie von Weltraumflügen, Außerirdischen, UFOs, von unserem Sonnensystem und von der Lichtgeschwindigkeit. Muß ich von Venedig nach Amsterdam fahren, um etwas von der etwaigen, weit in der Zukunft liegenden Besiedelung fremder Planeten zu hören? Übrigens kann ich die englische Sprache nicht mehr hören. Alles ist heutzutage englisch und international.

Was für eine schreckliche Aussprache dieser Italiener hat, wenn er deutsch auf die englischen Fragen der Dame antwortet! Er ist sicher so ein neureicher Yuppie, der nur in der gehobenen Gesellschaft verkehrt und der sich ungeheuer wichtig nimmt."

Conte Isidoro: "Meiner Ansicht nach ist Uranus der erstaunlichste aller Planeten unseres Sonnensystems, der, von der Sonne her gezählt, siebte Planet. Uranus liegt ungefähr in einem 90-Grad-Winkel zur Sonne, so daß einer seiner Pole während der Rotation ununterbrochen praktisch direkt auf die Sonne gerichtet ist. Um so mehr erstaunt es, daß die Temperatur an beiden Polen fast gleich hoch ist."

Die englische, alte Dame: "Uranus is a nonterrestrial planet whose surface is a superheated ocean of water."

Conte Isidoro: "Das jedoch erklärt diese theoretisch viel zu geringen Temperaturunterschiede nicht in befriedigender Weise."

Die englische Dame: "The dense atmosphere of mostly hydrogen and helium provides the pressure that both heats the water to thousands of degrees and prevents it from boiling away. The high temperatures in return prevent the pressure from solidifying the water."

Conte Isidoro: "Sie kennen sich erstaunlich gut aus, mein Kompliment!"

Die englische Dame: "15 moons are surrounding Uranus. Until Voyager 2 began sending information back to Earth about Uranus in January 1986, only five moons were known-Oberon, Titania, Umbrial, Ariel, and Miranda."

Conte Isidoro: "Wie der Saturn, so ist auch der Uranus von Ringen umgeben. Astronomen entdeckten sie im Jahre 1977, als sie eine Eklipse eines Sterns durch einen Planeten beobachteten. Sie bemerkten, daß das Licht des Sterns während 35 Minuten flackerte, bevor die Okkultation durch Uranus eintrat. Dann, nachdem Uranus vor dem Stern durchgewandert war, setzte das Flackern des Lichtes wieder ein, um dann wieder vollständig sichtbar zu werden. Es muß für die Astronauten der Zukunft ein faszinierendes Abenteuer sein, den Uranus zu erforschen."

Manfred: "Die Raumfahrt ist zu teuer. Selbst zum Mars zu fliegen rentiert sich nicht. Die Kosten werden immer höher, so endet die Raumfahrt mit den paar mühsamen und unsinnigen Ausflügen zum Mond, mit der sie begonnen hat."

Conte Isidoro: "Wer an der Zukunft und am Fortschritt zweifelt, der ist ein Pessimist, der auch den Glauben an den Menschen selbst verloren hat."

Manfred: "Das Konzept des Fortschritts bereitet uns nur auf die Schrecken der Zukunft vor."

Conte Isidoro: "Eines Tages werden wir alle die Fesseln der Erde sprengen und den Rest des Universums bevölkern."

Manfred: "Aus dem Universum aber kann man nicht hinaus."

Manfred: "Es ist schon so: Als Rechtsanwalt in einer Anwaltskanzlei kann man sich keine Fehler in den Umgangsformen leisten. Zumindest nach außen hin muß der Anschein des gut gekleideten und kühl rationalen Materialisten gewahrt bleiben, sonst verliert man sofort an Glaubwürdigkeit bei den Kollegen und bei den Klienten.

Was hier zählt, ist das Leben, das man nach außen hin führt. Wer aber nach außen lebt, der tendiert zur Oberflächlichkeit und er vernachlässigt dadurch sein Leben nach innen hin."

Conte Isidoro: "Glauben Sie, daß man das in dieser überspitzten Form sagen kann? Schließlich ist das, was Sie als "Äußerlichkeit" abtun, ein Zeichen für kultivierte Menschen in einer hoch entwickelten Zivilisation. Leute, die aus sich hinaus gehen, leben in einem rauschartigen, unkontrollierten Zustand.

Wer in der Zivilisation lebt, ihre Regeln aber nicht anerkennt, der ist außerhalb der Welt, ein Traumtänzer."

Manfred: "Von außen gesehen mögen Sie recht haben."

Conte Isidoro: "Wer die Dinge von außen betrachtet, der hat einen objektiveren Standpunkt. Der objektive Standpunkt sagt immer mehr über die wahre Natur der Dinge aus."

Manfred: "Die Dinge sind nicht immer das, wofür man sie hält. Ich habe auch immer geglaubt, meine Arbeit, meine Familie und das alles wirklich zu mögen, ich glaubte für lange Zeit, mich in Beruf und Familie, mit Verantwortung und Kapital zu verwirklichen. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Bis jetzt habe ich es noch gar niemandem gesagt, aber gedacht habe ich es mir schon oft: Ich möchte einfach plötzlich verschwinden; vielleicht sage ich: "Ich gehe nur kurz die Zeitung kaufen", dann nehme ich ein Taxi zum Flughafen, kauf mir ein Flugbillet und fliege in ein exotisches, fremdes Land, um dort ganz ein neues Leben zu führen, frei von Zivilisationsstreß und von Gesellschaftssystemen."

Conte Isidoro: "In unzivilisierten Ländern hat man kein fließendes Wasser in den Häusern, oft nicht einmal Strom... kein Licht, kein Elektroherd, keine Heizung, kein Fernsehen... wie ungemütlich!"

Manfred: "Diese sogenannten Ungemütlichkeiten sind lange nicht so unbequem, wie sie erscheinen, und viele Bequemlichkeiten des modernen Lebens in der Großstadt sind lange nicht so vorteilhaft, wie sie erscheinen."

Conte Isidoro: "Warum dürfen die Dinge nicht auch einmal so sein, wie sie uns erscheinen?"

Manfred: "Ich würde auch kein Geld mitnehmen, kein Gepäck. Meine Frau würde mich mit der Polizei suchen lassen, aber niemand würde mich finden. Schließlich würden sich alle damit abfinden müssen, daß ich verschollen bin."

Conte Isidoro: "Ich hingegen möchte endlich Karriere machen. Wo Sie versuchen, hinauszukommen, da möchte ich gewissermaßen hineinkommen. Aber zurück zu ihrer Flucht in die Wildnis: Sie beschrieben zuerst, wie Sie erwogen hatten, erst ein Taxi, dann das Flugzeug zu nehmen. Wie kommt es, daß ich die Ehre habe, Sie hier auf einer Kreuzfahrt nach Amsterdam zu treffen?"

Manfred: "Das hat mit einer "Flucht in die Wildnis" natürlich nichts zu tun, aber fast hätte ich meinen Plan ausgeführt, schon oft war ich nahe daran, aus der Zivilisation zu flüchten und das Weite zu suchen."

Conte Isidoro: "In Wirklichkeit wußten Sie natürlich, daß Sie ihren Status in der zivilen, modernen Gesellschaft doch nicht so leichtfertig aufgeben könnten. Die fremden und ungewissen Strapazen in der Fremde hielten Sie logischerweise zurück."

Manfred: "Ersteres trifft eher zu, als das Zweite. Die ungewissen Strapazen bereiten mir keine Schwierigkeiten, sind sie doch Teil des ersehnten Lebens, das ich mir in der Fremde erhoffe. Was mich hindert, hinauszukommen, ist die Gewohnheit. Die Gewohnheit ist es, die mich zwingt, die Zeitung tatsächlich zu kaufen, nachdem ich gesagt habe: "Ich gehe nur kurz die Zeitung kaufen".

Oft scheint mir, daß ich keine Schwierigkeit hätte, das Taxi zum Flughafen zu nehmen, wenn ich erst einmal die Zeitung nicht kaufen würde, nachdem ich gesagt hätte, daß ich sie kaufen würde. Dann das erste Flugzeug zu nehmen, das in ein unzivilisiertes, weit entferntes Land fliegt, wäre überhaupt nicht mehr der Rede wert. Am Flughafen hätte ich keine Skrupel mehr, den ersten Flug zu nehmen, ins erstbeste "unzivilisierte" Land, in welches eben zufällig der erstbeste Flug gehen soll."

Conte Isidoro: "Soso."

Manfred: "Diese Reise hingegen mache ich, weil sie so billig ist. Andere Kreuzfahrten kosten ja heutzutage ein Vermögen..."

Conte Isidoro: "... wie auch die Flugzeugreisen."

Manfred: "Ja, schon. Aber wenn ich tatsächlich einmal in ein fremdes Land fliege, dann spielt Geld sowieso keine Rolle mehr."

Conte Isidoro: "Sie meinen, Geld spiele für Sie erst dann keine Rolle mehr, wenn Sie, sagen wir, nach Äthiopien fliegen? Vorher aber müßten Sie auf jeden Groschen aufpassen?"

Manfred: "Sie haben schon recht. Meine Gedanken, meine Seele, sogar mein Verstand weiß, daß Geld keine Rolle spielt, sonst wäre ja der Wunsch, aus dem System auszubrechen, nicht so groß. Es ist wiederum nur die Gewohnheit, die mich bei dieser Reise aufs Geld achten ließ. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie determinierend Gewohnheiten wirken können, wenn sie erst einmal gut verankert sind, eben echte, solide Gewohnheiten."

Conte Isidoro: "Und Sie machen diese Fahrt nur, weil Sie sie, wie Sie sagen, aus Gewohnheit, billig finden?"

Manfred: "Natürlich wollte ich auch eine Reise machen. Ich wollte mich von der Arbeit erholen, Ferien machen, aber auch Distanz gewinnen. Ich will mich auf dieser Reise unter anderem entscheiden, ob ich den Schritt ins wilde Leben endlich wagen soll, oder ob ich ihn für immer aus meinem Leben streiche."

Conte Isidoro: "Soso."

Manfred: "Und wieso haben Sie diese Schiffsreise gemacht?"

Conte Isidoro: "In der Tat war auch bei mir der niedrige Preis dieser Kreuzfahrt nicht der einzige Grund. Auch ich wollte nachdenken und Ferien machen. In Venedig arbeite ich als Pizzaiolo. Ich kaufe mir die nobelsten Kleider und gehe auf die exklusivsten Abende, aber niemand beachtet mich. Ich gebe ein Vermögen für teures Katzenfutter aus, um den Eindruck vom reichen Conte aufrecht zu erhalten, der Arbeit nicht nötig hat. Bis jetzt ist mir der Einstieg in die gehobene Gesellschaft trotz allem nicht geglückt. Sehen Sie, meine Armbanduhr: Es ist eine echte Rolex, sie hat mich ein Vermögen gekostet, die Raten sind noch lange nicht abgezahlt. Obwohl ich sie nur gekauft habe, um Eindruck zu schinden, wurde ich nie beachtet.

Wie Sie sehen: Der äußere Anschein, um den ich mich so bemühe, genügt überhaupt nicht. Man müßte gewissermaßen schon sehr reich sein, um reich werden zu können, aber dann will man es nicht mehr werden, weil man es schon ist. Der Einstieg in die Gesellschaft der Reichen erweist sich immer viel schwieriger, als man gedacht hat. Am besten wäre, ich würde Claudia heiraten. Sie hat ein schönes Gesicht und spricht so sonderbar und nobel. Außerdem hat sie einen reichen Onkel und eine unglaublich reiche Tante. Sie hat mich angelächelt, und statt mit mir das Übliche zu reden, hat sie mir ein Rätsel gestellt und ist dann gleich fortgegangen. Es ist ein durchaus sonderbares Rätsel, das keine Lösung zu haben scheint. Finde ich aber keine Lösung, so wird Claudia wohl kaum noch einmal mit mir sprechen. Sie ahnt sicher schon, daß ich nicht so reich bin, wie ich mich gebe, und daß ich ein einfacher Pizzaiolo bin, der die Raten seiner Rolex mühsam abzahlen muß."

Manfred: "Wie ist denn dieses Rätsel?"

Conte Isidoro: "Claudia sagte zu mir: "Stellen Sie sich zwei Kisten vor, eine rote und eine blaue. Beide Kisten sind verschlossen. In der roten Kiste befindet sich der Schlüssel für die blaue Kiste. In der blauen Kiste befindet sich der Schlüssel für die rote Kiste. Um eine der beiden Kisten zu öffnen bräuchte man den Schlüssel in der anderen Kiste und umgekehrt. Die Kisten zu öffnen scheint unmöglich, doch wenn Sie das Problem genauer betrachten, indem Sie sozusagen ins Problem hineingelangen, dann kommen Sie aus ihm heraus. Beachten Sie, daß die Kisten nicht zerstört werden sollen."

Bevor ich noch etwas sagen konnte, war Claudia schon weggegangen."

Manfred: "Es handelt sich sicher um irgend eine Scherzfrage, aber ich werde darüber nachdenken, um mir die Langeweile hier zu vertreiben."

Conte Isidoro: "Denken Sie nur, so lange Sie wollen. Diese Kisten sind nicht zu öffnen, die Lösung gibt es nicht, und für eine Scherzfrage war Claudia zu konzentriert und zu ernst, als sie mir das Rätsel stellte. Ich genieße den Anblick der Balearen. Dort machen nur reiche Leute Urlaub."

Manfred: "Ist es keine Scherzfrage, so gibt es sicher eine Lösung. Rätsel ohne Lösungen werden nicht gestellt, das wäre unhöflich."

Manfred: "Die Straße von Gibraltar ist so eng, daß man auf beiden Seiten gut das Land sehen kann. Links ist Afrika, rechts Europa. Zwei Kontinente treffen hier aufeinander. Ein erhebender Augenblick. Mein lieber Herr Conte, angesichts dieses Höhepunkts unserer Schiffsreise will ich Ihnen die Lösung zum Rätsel sagen, das Sie mir bei Mallorca stellten: Die rote Kiste ist größer als die blaue Kiste. Wer die Kisten öffnen will, befindet sich samt der blauen Kiste in der roten, verschlossenen Kiste, wo sich per Definition auch der Schlüssel zur blauen Kiste befindet. So kann er die blaue Kiste öffnen. Er nimmt den roten Schlüssel heraus und sperrt die rote Kiste von innen auf, um sich aus der roten Kiste zu befreien."

Conte Isidoro: "Unglaublich! Sie haben eine Lösung gefunden, Sie sind ein Genie!"

Manfred: "Vielleicht fallen uns noch weitere Lösungen ein. Mir scheint, daß dieses Rätsel etwas anderes ist, als was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Finden Sie nicht auch?"

Conte Isidoro: "Wenn die rote Kiste das Universum ist, und die blaue Kiste ist unsere Welt, so müssen wir in den Weltraum fliegen, um den Schlüssel zum Verständnis unserer Erde zu bekommen.

Verstehen wir die Erde besser, so eröffnet uns das wiederum den Weltraum."

Manfred: "Wer sich in einer problematischen Situation befindet, muß aus ihr heraustreten. Im größeren Kontext findet er den Schlüssel zum Problem, in welchem das Verständnis zum größeren Kontext wiederum enthalten ist."

Conte Isidoro: "Vielleicht sollte ich zu den Wilden gehen. Nach einigen Jahren komme ich zurück, schreibe ein paar Bestseller, die von meinen Abenteuern handeln, und schon bin ich reich und berühmt."

Manfred: "Gehen Sie zuerst lieber mit unserer Lösung zu Claudia. Vielleicht haben Sie Erfolg."

Manfred: "Im Golf von Biskaya ist mir noch eine Lösung eingefallen: Die rote Kiste hat hauchdünne Wände und die Form des Schlüssels für die blaue Kiste, der in ihr eingeschlossen ist. So kann man mit der roten Kiste selbst die blaue Kiste aufsperren. Dort ist der Schlüssel für die rote Kiste. Öffnet man sie, so befindet sich darin der eigentliche Schlüssel für die bereits offene blaue Kiste.

Conte Isidoro: "Bei idealen Kisten paßt der Schlüssel so genau, daß kein Zwischenraum für auch noch so dünne Kistenwände zwischen Schlüssel und Schloß bleiben, fürchte ich."

Manfred: "Ideale Kisten können infinitesimal dünn sein."

Conte Isidoro: "Dann gratuliere ich Ihnen zu Ihrer originellen zweiten Lösung. Ich selbst habe eine andere Lösung gefunden. Ihre erste Lösung ist ein Spezialfall meiner allgemeinen Lösung."

Manfred: "Sehen Sie? Lösungen finden sich immer, wenn man aus dem System hinausgeht. Wie lautet also diese allgemeine Version meiner ersten Lösung?"

Conte Isidoro: "Wie jeder weiß, ist der Raum im Universum, zumindest einigen noch nicht ganz bewiesenen kosmologischen Theorien nach, derart gebogen, daß er nach allen Richtungen hin geschlossen ist. Wer immer geradeaus in eine bestimmte Richtung fliegt, der kommt nach unvorstellbar langer Reise wieder an seinen Ausgangspunkt zurück.

Wenn die rote Kiste unvorstellbar groß ist, sagen wir etwa, daß sie nur um ein Kubikdezimeter kleiner ist, als unser gesamtes Universum, so sind ihre Außenwände wieder so nahe beisammen, daß wir die in Wirklichkeit unvorstellbar große Kiste leicht vor uns auf den Tisch stellen können. Die Kiste ist sozusagen "nach außen gestülpt". Der Tisch, wir, die Milchstraße, alle bekannten und unbekannten Galaxien sind in der Kiste enthalten, außer der kubikdezimeter große Raum, der sich scheinbar in der roten Kiste befindet, der aber in Wirklichkeit das Einzige ist, was sich außerhalb der roten Kiste befindet. Der Schlüssel zur blauen Kiste könnte unter diesen Umständen gleich daneben auf dem Tisch liegen. Wenn nur die rote Kiste so unwahrscheinlich groß ist, dann haben wir es mit einem besonders übertriebenen Fall Ihrer ersten Lösung zu tun, da wir uns samt der blauen Kiste in der roten Kiste befinden.

Was geschieht aber, wenn auch die blaue Kiste so unvorstellbar groß ist, wie die rote? Einige unbedarfte Beobachter könnten die beiden Kisten auf unserem Tisch für recht klein halten. Was sie nicht wissen, ist, daß diese Kisten alles enthalten, was scheinbar "außerhalb" dieser Kisten ist, und daß sie in Wirklichkeit nur das, was sie einzuschließen scheinen, ausschließen. Scheinbar liegen die beiden Schlüssel neben den beiden Kisten, in Wirklichkeit enthalten sich die Kisten gegenseitig. Stimmt die Theorie vom geschlossenen Universum, so ist es keine Kunst, die beiden Kisten aufzusperren."

Manfred: "Das ist sehr interessant. Ob Claudia diese Lösung akzeptieren wird?"

Conte Isidoro: "Wennschon. Wir finden sicher noch andere Lösungen, bevor wir in Amsterdam ankommen."

Manfred: "Das glaube ich auch."

Manfred: "Ich würde sagen, daß die existentiell- synthetisierende, materialistische und nach außen gerichtete Einstellung des Menschen ein Versuch ist, aus dem subjektiven, lebendigen Raum- Zeitkontinuum der Lebenswelt eine dreidimensionale, objektive Welt zu abstrahieren, mit meßbaren Werten und mit einer gleichfalls meßbaren, weil eingeteilten Zeit, um dann zum Subjekt in dieser objektiven Welt zu werden."

Conte Isidoro: "Ich hingegen würde sagen, daß die organisierende, ordnende und durchdenkende Verhaltensweise des Menschen ein Versuch ist, aus dem subjektiven, chaotischen, animalischen und triebhaften Leben ein kultiviertes, geordneteres und objektiveres Dasein zu ermöglichen, was ihm erlaubt, immer neuere und bessere Welten zu erschaffen, in denen er immer mehr Freiheitsgrade bekommt und in denen er sich immer mehr von den Tieren unterscheidet, während er den Göttern immer näher kommt."

Conte Isidoro: "Der Kapitän hat mir gesagt, daß wir uns jetzt auf dem achtundvierzigsten Breitengrad befinden.

Die beiden Kisten sind nicht nur gleich groß, sondern bis auf die Farbe völlig identisch. In einer der beiden Kisten sitzen wir. Da die Kisten identisch sind, sind es auch die Schlüssel. So paßt der Schlüssel, den wir im Inneren der Kiste finden, in der wir eingeschlossen sind. Mit ihm können wir beide Kisten, eine von innen, die andere von außen, aufsperren."

Manfred: "Die Kisten sind aus einem wenig stabilen Material, zum Beispiel aus Schokolade, aus Apfelsaft oder aus Gas. Es stimmt zwar, daß man die Kisten nicht zerstören darf, aber Schokolade zu essen oder Apfelsaft zu trinken ist keine Zerstörung im eigentlichen Sinne. Schokolade ist zum Essen da, Apfelsaft zum Trinken. Wenn die Kisten aus Apfelsaft von alleine zerfließen, die Kisten aus Gas sich von alleine verflüchtigen, so haben wir sie nicht zerstört."

Conte Isidoro: "Die Kisten sind zwar immer noch rot und blau, aber durchsichtig. Wir können den Schlüssel sehen und ihn außerhalb der Kiste getreulichst nachbauen."

Manfred: "Die Schlüssel sind intelligente Wesen. Wenn man ihnen von außen gut zuredet, so öffnen sie die Kisten innen von alleine."

Conte Isidoro: "Der Schlüssel in der blauen Kiste ist aber für die rote Kiste gemacht..."

Manfred: "Intelligente Schlüssel öffnen alle Schlösser. Sie werden auch mit diesem Problem fertig werden."

Conte Isidoro: "Welche Lösung wohl Claudia im Sinn hatte?"

Manfred: "Vielleicht dachte sie, das Rätsel sei unlösbar."

Manfred: "Ohne hinaus zu gehen, kommt man nicht hinein."

Conte Isidoro: "Ohne hinein zu gehen, kommt man nicht hinaus."

Manfred: "Es ist wie mit den beiden Kisten: Das Problem haben wir gelöst, indem wir uns hineinversetzt haben."

Conte Isidoro: "Wir haben uns hineinversetzt, indem wir es von außen betrachtet haben."

Manfred: "Wenn wir sterben, kommen wir aus dem System hinaus."

Conte Isidoro: "Wir sind selber die Wilden, die Fremden und Exotischen in dieser Welt."

Manfred: "Es ist völlig unwichtig, ob ich aus dem System aussteige oder nicht, da ich einerseits das System früher oder später sowieso verlassen werde, und da ich mich andererseits nie wirklich im System befinde."

Conte Isidoro: "Wer innerhalb ist, will hinaus. Wer außerhalb ist, will hinein. Ich werde Claudia die Lösungen ihres Rätsels sagen, aber ich werde ihr auch sagen, daß ich ein Pizzaiolo bin. Früher oder später würde sie es ja sowieso bemerken."

Manfred: "In Amsterdam nehme ich ein Taxi, fahre zum Flughafen und fliege ins erstbeste unzivilisierte Land. Gerade die Sinnlosigkeit solch einer Flucht aus dem System überzeugt mich."

Claudia: "Der Onkel ist in der Nervenklinik, die Tante bekam einen Herzinfarkt. Ich erbe alles. Conte Isidoro, den Pizzaiolo, zu heiraten war das beste Geschäft meines Lebens. Seit er die Katzen nicht mehr füttert, mag ich ihn sehr. Sein unbeholfenes Lächeln hat er beibehalten, die Rolex hat er in den Kanal geworfen.

Einen Tag bevor Conte Isidoro mit dem Zug aus Amsterdam wieder in Venedig ankam, habe ich kurz den alten Trunkenbold gesehen. Ich wollte ihn nach seinem Rätsel fragen, aber er verschwand sofort wieder in einer undurchdringlichen Menge von entfesselten, andauernd und ziellos fotografierenden Touristen. Als am nächsten Tag der Conte eintraf, wußte ich bereits, daß ich ihn trotz seines vermeintlichen, langweiligen Reichtums unvermeidlich heiraten würde. Die Lösungen zum Rätsel mit den Kisten haben mich wenig interessiert, aber als er mir sagte, er sei ein Pizzaiolo, war ich vollends begeistert."